Graduate School for East and Southeast European Studies
print


Breadcrumb Navigation


Content

[08.12.2016] Erste umfassende Studie zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Litauen erschienen

08.12.2016

Der 9. Mai ist in Litauen umstritten: Die russischsprachigen Litauer feiern das Ende des Zweiten Weltkriegs als Tag des Sieges. Die Mehrheit der Gesellschaft sieht die Litauer als Opfer zweier Besatzungsmächte, der deutschen und der sowjetischen. Allein diese zwei Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Erinnerungsdiskurse in der Baltenrepublik sind. Welche Erinnerungsstränge sich in Geschichte und Gegenwart entwickelt haben, und wie diese in Museen, Denkmälern und Gedenkpraktiken ihren Ausdruck finden, hat Ekaterina Makhotina in ihrer soeben erschienen Studie „Erinnerungen an den Krieg - Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg“ erstmals umfassend untersucht.

Mit ihrem soeben veröffentlichten Buch „Erinnerungen an den Krieg - Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg“ legt Ekaterina Makhotina die erste umfassende Studie zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Litauen vor. Sie nimmt sich darin einer bemerkenswerten Leerstelle im nationalen Gedächtnis der Baltenrepublik an. In den letzten Jahren hat in Litauen die Erinnerung an den Gulag die Erinnerung an den Krieg überlagert. Dadurch wird die eigene Verwicklung im NS-Terror weitgehend ausgeblendet.

Die Autorin schlägt zeitlich einen Bogen von der Sowjetzeit bis hinein in die Gegenwart und analysiert die Erinnerungskultur in all ihren Facetten: Sie untersucht sowohl die öffentlichen Diskurse als auch Museen, Gedenkstätten und Denkmäler sowie die mit diesen Orten verbundenen Praktiken. Dabei wertet sie unter anderem bislang nicht berücksichtigtes Archivmaterial aus. Durch den von ihr gewählten Zugang und die breite Quellenbasis gelingt es ihr, diachron und synchron verschiedene, teilweise entgegengesetzte Erinnerungsstränge herauszuarbeiten und ausführlich zu analysieren.

Dass, wie der Titel andeutet, in Litauen ein „Krieg der Erinnerungen“ herrscht, ist in den wechselvollen Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs angelegt. Dieser beendete die 1918 erlangte Souveränität Litauens, welches 1940 gewaltsam als Litauische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion wurde. Im Zuge des Deutsch-Sowjetischen Kriegs besetzten die Deutschen im Jahr 1941 Litauen und töteten - teilweise unter Beihilfe der örtlichen Bevölkerung - mehr als 90 Prozent der dort lebenden Juden. Damit zerstörten sie zugleich ein wichtiges Zentrum des Ostjudentums. 1944 eroberte die Rote Armee Litauen erneut und stellte die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik wieder her.

Entsprechend dienten nach Kriegsende Denkmäler und Gedenkstätten zunächst dazu, die sowjetische Präsenz zu bekräftigen. In den 1960er Jahren betonten sie den litauischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Mit dem politischen Umbruch im Jahr 1990 rückte die „erlebte“ Geschichte, vor allem die Erfahrungen der Opfer des stalinistischen Terrors, in den Fokus der öffentlichen Geschichtsrepräsentation. Stätten hingegen, die an die deutsche Besatzung erinnerten, wurden als sowjetische Propaganda begriffen und beseitigt.

Wie die Verfasserin aufzeigt, stehen sich heute unterschiedliche Erinnerungskulturen gegenüber: Der universelle Diskurs des Holocaust-Gedenkens sowie der jüdische Opfer-Diskurs stehen im Konflikt mit dem litauischen Opferdiskurs, der die Kollaboration mit den NS-Besatzern tendenziell ausblendet. Stattdessen wird „das litauische Volk zwischen den zwei Besatzern zum passiven Objekt der Gewalt seitens der beiden totalitären Staaten“, wobei die Sowjets als das größere Übel gelten. Dieser Diskurs steht auch im Gegensatz zum Erinnerungsdiskurs der russischsprachigen Litauer, welche den 9. Mai, den Tag des Kriegsendes, als „Tag des Sieges“ feiern. Dahinter verbirgt sich teilweise eine „Kritik an der aktuellen litauischen Regierung“ und eine „Gegen-Erinnerung“, die Loyalität zum heutigen Russland stiften soll, teilweise aber auch ein persönliches Familiengedenken, mit dem die Betroffenen ihre im Krieg umgekommenen Angehörigen ehren.

Mit ihren Untersuchungen leistet Ekaterina Makhotina zugleich einen Beitrag zur Theorie des Erinnerns, insbesondere zu Möglichkeiten und Grenzen des staatlich verordneten Gedenkens unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen, welches zunehmend in Konkurrenz zu transnationalen Formen des Erinnerns steht.

Die Autorin, Dr. Ekaterina Makhotina, war assoziierte Doktorandin der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien in München und ist nun wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. Dem Buch liegt ihre 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigte Dissertation „Erinnerungsdiskurse zum Zweiten Weltkrieg in Museen, Gedenkstätten und Denkmalkultur Litauens 1944 - 2010“ zugrunde.

Die Studie erscheint als vierter Band in der Reihe „Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa“ der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien. Sie wird von ihren Sprechern Martin Schulze Wessel und Ulf Brunnbauer im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herausgegeben und versammelt aktuelle Forschungen zu Geschichte, Literatur, Kultur und Politik des östlichen und südöstlichen Europa. Die Arbeiten gehen überwiegend aus der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien hervor, in der transnationale Verflechtungsprozesse innerhalb der Region und zwischen Ost- und Südosteuropa und anderen Weltregionen untersucht werden. Sie ist eine gemeinsame Einrichtung der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Regensburg.

Ekaterina Makhotina: Erinnerungen an den Krieg - Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016 ( = Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa; Bd. 4).
478 Seiten mit 22 Abb. gebunden
ISBN 978-3-525-30090-9
Vandenhoeck & Ruprecht
Ladenpreis 90 Euro

Die Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien (GS OSES) ist eine gemeinsame Einrichtung der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Regensburg im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder. Ihre Doktorandenausbildung wurde 2013 im Paper „Good Practice Elements in Doctoral Training“ der League of European Research Universities (LERU) als Best-Practice-Beispiel angeführt.

Kontakt

Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien
Maria-Theresia-Straße 21
81675 München
Deutschland

Dr. Kathrin Krogner-Kornalik
Telefon: 089-2180-9595
E-Mail: kathrin.krogner@lrz.uni-muenchen.de

Dr. Christoph Hilgert
Telefon: 089 2180 9595
Fax: 089 2180 17763
E-Mail: christoph.hilgert@lrz.uni-muenchen.de